Tallinn/ Estland: Sept. 2008 - Mai 2009

Am 8. September 2008 ging es los für mich, auf in ein großes Abenteuer, mit jeder Menge Neugier, Aufregung und Freude im Gepäck. Mein Zielland: Estland. Ein kleines aber feines Land, über das ich vorher nicht viel wusste, was die Spannung noch ein bisschen größer machte. „Was willst du denn in Estland?!“, wurde ich vor meiner Abreise von vielen Leuten gefragt. Meine Antwort: „Was Neues erleben!“

Und so kam es auch; Land und Leute waren neu für mich sowie die Sprache und die Umstellung vom Dorf- auf´s Stadtleben, auch wenn Tallinn mit 400.000 Einwohnern nicht zu den größten Städten Europas gehört. Ich wohnte während meines EVS in einer Wohnung im Stadtzentrum, die ich mir mit fünf anderen Freiwilligen teilte. Die „Besetzung“ wechselte von Zeit zu Zeit, insgesamt wohnte ich mit 9 verschiedenen Leuten zusammen, davon drei deutsche Mädchen, zwei Armenierinnen, eine Spanierin, eine Schwedin, ein Italiener und ein Ungar. Eine echte multi – kulti WG sozusagen! Ich war froh, immer mindestens eine deutsche Mitstreiterin an meiner Seite zu haben, da die Verständigung in der Muttersprache ja doch immer noch am Einfachsten funktionierte. Wir alle haben in drei verschiedenen Kindergärten in Tallinn gearbeitet. Und dort wurde estnisch gesprochen – zumindest soweit es ging!

In Tallinn habe ich mich schnell zu Hause gefühlt, eben weil die Stadt nicht sehr groß ist und alles schnell mit der „Tram“ (S-Bahn), mit dem Bus oder zu Fuß zu erreichen ist. Die Altstadt fand ich persönlich am Schönsten und dort habe ich mich auch am Liebsten aufgehalten. Sie ist ein UNESCO – Weltkulturerbe und jeder, der einmal dort gewesen ist, weiß auch warum! Kleine Gässchen, holpriges Kopfsteinpflaster, bunte Steinhäuschen und viele kleine aneinander gereihte Souvenir- und andere Shops vermitteln eine gemütliche Atmosphäre und sorgen für viele positive Eindrücke. Tallinn ist um einiges moderner als man vielleicht annimmt., es gibt keine alten Autos, überall im ganzen Land Handyempfang und sogar ein Recht auf Internet! Aus diesem Grund findet man sehr viele ausgeschilderte „wi-fi areas“ über das ganze Land verteilt. Das Preisniveau liegt auch nur knapp unter dem deutschen.

An die Distanziertheit und Zurückhaltung der Esten musste ich mich erst gewöhnen, was einige Zeit dauerte. Denn ich kannte es zum Beispiel nicht, dass man an der Kasse eines Supermarktes nicht freundlich begrüßt wird, sondern meistens lediglich einen genervten Blick einer gestressten Kassiererin erntet. Auch auf den Straßen wird sich nicht angeschaut, lächelnde Menschen trifft man selten, im Winter fast gar nicht. Damit musste ich erst umzugehen lernen, aber nach einiger Zeit hatte ich mich der estnischen Lebensweise weitgehend angepasst. Durch bewusstes Begrüßen fremder Menschen auf den Straßen oder eben im Supermarkt versuchte ich dazu beizutragen, dass die Menschen sich auch offener und freundlich verhalten – irgendwann vielleicht einmal. Denn zuerst hatte ich den Eindruck, dass die Esten unfreundlich seien, aber bei genauerem Hinschauen ist es tatsächlich nur, teils auch kühle, Zurückhaltung. Auf die Frage hin, warum die Esten so sind, wurde uns erklärt, dass sie so sind, um sich von den Russen zu unterscheiden, die in den Augen der Esten viel emotionaler und aufbrausender sind. In Estland leben sehr viele Russen und immer noch gibt es Reibereien zwischen Esten und Russen. Auf dem Mid-term training sahen wir den Film „The Singing Revolution“, der viel dazu beträgt, die negative Einstellung der Esten gegenüber den Russen besser zu verstehen. Außerdem erklärt er, warum das Singen in Estland eine große Tradition hat und für die Bevölkerung geradezu überlebenswichtig ist. Daher werden die Sängerfeste mit einer großen Begeisterung abgehalten.

Mein Projekt, der Kindergarten „Kullatera“, befand sich am Rand des Stadtzentrums, etwa 20 Minuten mit der S-Bahn von meiner Wohnung entfernt. Die ersten fünf Monate lang arbeitete ich mit meiner spanischen Mitbewohnerin dort, dann im Januar war ihr Projekt beendet und von da an war ich die einzige Freiwillige in dem Kindergarten. Auch wenn wir beide in unterschiedlichen Gruppen gearbeitet haben, war es doch schön, draußen im Hof jemanden zum Reden zu haben. Denn meine Kolleginnen waren etwas misstrauisch gegenüber Ausländern, diesen Eindruck hatte ich zumindest. Und sie waren sehr schüchtern, was das Englisch oder Deutsch Sprechen angeht. Eine meiner Kolleginnen in der Gruppe sprach etwas deutsch, eine etwas englisch und die dritte von jedem etwas. Nach und nach stellte sich aber heraus, dass außer den Erzieherinnen meiner Gruppe auch noch viele andere Erzieherinnen entweder deutsch oder englisch sprachen, dies aber leider viel zu selten taten, auf Grund ihrer Schüchternheit. Anfangs stellte ich mir oft die Frage, ob es an mir läge, dass sie nicht mit mir redeten, aber mir wurde erklärt, dass das Sprechen in einer fremden Sprache allgemein ein Problem für sie sei.

Pro Gruppe gab es jeweils drei Erzieherinnen, eine von ihnen war nur für die Mahlzeiten und das Putzen der Räumlichkeiten zuständig, die anderen beiden arbeiteten mit den Kindern, sie wechselten sich halbtags ab. Manchmal arbeitete eine auch für 12 Stunden, ohne Ablösung. Meine Gruppe bestand aus 21 vier- bis fünfjährigen Kindern, davon 14 Jungen und 7 Mädchen. Für diesen Kindergarten war dies ein außergewöhnlich hoher Jungenanteil, was das Arbeiten mit den Kindern auch nicht immer einfacher machte. Morgens wurden sie zwischen acht und halb zehn von ihren Eltern gebracht und abends zwischen fünf und sieben wieder abgeholt. Meiner Meinung nach war das für einige Kinder viel zu lang, denn es gab wirklich welche, die von morgens acht Uhr bis abends um sieben dort waren, und das jeden Tag! Für mich hatte das schon etwas mit Abschieberei zu tun, immerhin waren es 11 Stunden, die das Kind jeden Tag außer Haus verbrachte. Der Tagesplan war sehr durch strukturiert, kaum Platz für Spontaneität. Daran musste ich mich auch erst gewöhnen, denn ich war von mehr Lockerheit im Kindergartenalltag ausgegangen. Für Morgensitzkreis, Bastelarbeiten und das Spielen draußen im Hof gab es genauso feste Zeiten wie für das Frühstück, Mittagessen, die Mittagsruhe und das Abendessen. Dazu gab es noch einmal pro Woche an einem bestimmten Tag Musik- und zweimal pro Woche Sportunterricht. Vom diesem war ich etwas enttäuscht, da es keine Sporthalle gab, sondern der Gruppenraum dafür benutzt wurde. Dementsprechend wenig Platz war vorhanden und der Unterricht deswegen in meinen Augen nicht sehr effektiv. Bei gutem Wetter fanden die Sportstunden draußen statt, aber dann trugen die Kinder zu dicke Kleidung, da sie sich dafür nicht noch extra umzogen, sondern die Kleidung an behielten, die sie auch zum Spielen trugen.

Die Erzieherinnen bemühten sich sehr, mich in den Kindergartenalltag zu integrieren. Tag für Tag fühlte ich mich wohler dort, wenn auch am Anfang ein wenig Fehl am Platze, weil es für mich nicht so viel zu tun gab. Die drei Erzieherinnen waren ein eingespieltes Team, jede hatte ihre Aufgaben, die sie erledigte, erst nach und nach übergaben sie mir einige von diesen. Zum Ende hin aber fühlte ich mich wie eine feste Größe dort, denn viele Aktionen hätten nicht stattgefunden, wenn ich nicht dort gewesen wäre, da es sonst an Unterstützung gemangelt hätte.

Ich durfte auch meine eigenen Ideen für Spiele oder Bastelarbeiten mit den Kindern realisieren, was mich sehr glücklich machte, denn ich wollte ja auch etwas für die Kinder „hinterlassen“. Hauptsächlich war ich dafür zuständig, den Kindern beim An- und Ausziehen zu helfen, sie draußen beim Spielen zu beaufsichtigen, den Gruppenraum aufzuräumen und Bastelarbeiten vorzubereiten. Es blieb mir aber auch viel Zeit, um mit den Kindern zu spielen, was immer wieder Spaß machte, aber auch eine Herausforderung war, da wir zumindest zu Beginn nicht dieselbe Sprache sprachen. Ich lernte schnell, mich irgendwie anders auszudrücken, sei es durch Hände und Füße, das Zeigen auf Gegenstände oder auch einfach Aufmalen, wenn gar nichts mehr ging! Den Kindern fiel es in der ersten Zeit ein wenig schwer zu begreifen, dass ich sie nicht verstehen konnte, auch wenn sie die Sätze noch einmal laut und deutlich wiederholten. Durch den dreimonatigen Sprachkurs lernte ich aber einiges, um mich auszudrücken. Noch mal so viel schnappte ich aber im Kindergarten auf, was sehr hilfreich war, da dieses „praktische Lernen“ für mich einfacher war. Die Erzieherinnen sprangen ab und zu als Übersetzer ein, wenn die Kinder und ich uns partout nicht verständigen konnten, aber oftmals ging es auch irgendwie anders, denn das ein oder andere Kind hatte es sehr schnell begriffen und gelernt, dass es einen anderen Ausdruck benutzen musste oder mir die Dinge zeigen, wenn ich nicht verstand. Das war sehr hilfreich für mich und ich war sehr erstaunt, zu was Kinder in dem Alter schon fähig sind! Es war auch manchmal ein kleines Abenteuer, wenn man eine Frage, die man nicht verstanden hatte, einfach mit Ja oder Nein beantwortete und dann gespannt beobachtete, was dann geschah. Zeitweise führte dies zu ein wenig Verwirrung, beispielsweise standen Kinder dann einfach auf und gingen weg, obwohl sie noch nicht fertig waren mit Basteln oder Essen.

Schnell hatte ich alle Kinder lieb gewonnen, was den Abschied nach neun Monaten nicht leicht machte. Auch einigen Kindern machte dies sichtbar zu schaffen, was mich sehr berührte, weil ich nicht gedacht hätte, dass ich doch so ein wichtige „große Freundin“ für sie geworden war. Mit Hilfe der Erzieherinnen hatten sie ein Buch mit Gemälden für mich erstellt und Sätze hineingeschrieben, was sie über mich und die Zeit, in der ich dort war, dachten. Das war ein gutes Feedback für mich! Um den Kindern klar zu machen, wo ich herkam und wo ich wieder hin zurück ging und um ihnen eine Dimension von Europa zu vermitteln, malte ich ihnen eine Karte von Europa und hing sie an die Wand, damit sie sie betrachten konnten. In meinen letzten Tagen im Kindergarten sagte einmal ein Mädchen beim Blick auf diese Karte, dass Deutschland doch gar nicht so weit von Estland entfernt sei und sie deshalb einfach mitkommen wolle! 

An den Wochenenden fuhr ich viel mit meinen Mitbewohnerinnen und anderen Freiwilligen im Land herum, um was zu sehen. Da Bus- und Zugfahren dort sehr billig ist und das Land zudem nicht sehr groß, war es leicht, vom Norden bis ganz in den Süden zu kommen. Beim Blick auf die Landkarte stellte ich fest, dass es recht viele Städte zu geben schien, aber schnell fand ich dann heraus, dass sie nicht mit deutschen Städten zu vergleichen sind, denn in Deutschland wären sie noch als Dorf durchgegangen. Sie waren lediglich fett schwarz eingezeichnet in der Landkarte. Von allen Städten gefiel mir Tallinn aber immer noch am Besten, da man dort auch die meisten Ausgehmöglichkeiten hat und es viele Sehenswürdigkeiten und Attraktionen gibt. Die Armut der Bevölkerung macht sich auf dem Land bemerkbar, wovon man in den Städten aber nicht viel mitbekommt. Da etwa die Hälfte des Landes mit Wald bedeckt ist, gab es während der Zugfahrten auch nicht viel zu sehen - hier und dort mal einen sehr abgelegenen Bauernhof, auf dem ich mir das Leben doch sehr einsam vorstelle.

Ich habe mein EVS in Estland sehr genossen und bin sehr froh, dass ich diesen Schritt gemacht habe und kann es nur weiter empfehlen für alle, die einmal „über den Tellerrand hinaus schauen“ möchten!!


Abschlussbericht Elisabeth Bangert, EVS vom 08.09.2008 bis 31.05.2009 in Tallinn/Estland in einem estnischen Kindergarten